Bürgerräte sind nicht erst durch die „Letzte Generation“ auch für den Verein „Mehr Demokratie“ ein Thema. Vorstand Ralph-Uwe Beck erklärt die Vorteile von Gremien, welche die Zusammensetzung der Gesellschaft tatsächlich widerspiegeln.
Was ist das Potenzial von Bürgerräten?
Bürgerräte sind ein exzellentes Beteiligungsinstrument, mit dem sich politische Entscheidungen näher an die Interessen der Bürger*innen rücken lassen. Für einen guten Bürgerrat müssen mehrere Voraussetzungen erfüllt sein. Ideal ist, wenn eine „Mini-Gesellschaft“ abgebildet wird. Es werden also Menschen so lange ausgelost, bis die Zusammensetzung im Bürgerrat der Gesellschaft entspricht: das Geschlechterverhältnis, die Altersgruppen, Bildungsabschlüsse, Einkommensschichten. Ein gut gemachter Bürgerrat nähert sich dem soweit es geht an. Schwachstelle einiger Bürgerräte ist, dass einfachere Bildungsabschlüsse nicht so vertreten waren, wie es in der Gesellschaft der Fall ist. Deshalb muss auch aktiv auf die Menschen zugegangen werden, um sie zu überzeugen, sich dort zu engagieren. Des Weiteren muss die Fragestellung, mit der sich die Menschen beschäftigen sollen, klar formuliert und möglichst konkret sein. Im Bürgerrat müssen die Menschen umfassend informiert werden, der Meinungsvielfalt in der Gesellschaft muss Rechnung getragen werden. Außerdem ist eine gute Moderation unverzichtbar, die es schafft alle Menschen in das Gespräch einzubeziehen. Viele Menschen, die an einem Bürgerrat beteiligt waren, schildern es danach als positives Erlebnis, dass alle Stimmen gehört und gewürdigt wurden.
Wenn gut erfüllt wird, was einen Bürgerrat auszeichnet, dann ist er eine große Chance, gemeinsam mit Bürger*innen eine Vision zu beschreiben – wie politische Entscheidungen von der gesamten Bevölkerung mitgetragen würden, was die Bevölkerung insgesamt erwartet. Das kann der Politik Mut machen, Probleme anzugehen. Jedenfalls kann sich die Politik schwerer herausreden, dies oder jenes sei den Menschen nicht zuzumuten, dies oder jenes würde nicht akzeptiert.
Sie warnen vor Missverständnissen rund um Bürgerräte …
Der Bürgerrat ist kein Entscheidungsgremium. Ergebnis eines Bürgerrates ist das Bürgergutachten, sind Empfehlungen – es ist ein Ratschlag an die Politik. Hilfreich wäre, vorher zu klären, welche Rolle die Ergebnisse bei den politischen Entscheidungen spielen sollen. Die Politik ist nicht verpflichtet, die Empfehlungen eines Bürgerrates umzusetzen – eine Verbindlichkeit lässt sich auch nicht herstellen. Man muss gegenüber der Bevölkerung klar machen, was ein Bürgerrat leisten kann – und was nicht. Ein Bürgerrat kann einen wirklich überzeugenden Ratschlag vor politischen Entscheidungen liefern, aber ersetzen kann er sie nicht.
Oft hört man auch die Aussage: „Bürgerräte stärken die Demokratie“ – da zucke ich zusammen. Sie sind kein Ersatz für Bürgerbeteiligung, die den Anspruch hat, allen Menschen die Möglichkeit zu geben, sich in Prozesse einzubringen. Ein Bürgerrat kann nicht jede andere Art der Bürgerbeteiligung ersetzen. Mitunter kann ein Bürgergutachten aber genutzt werden, um mit der gesamten Bevölkerung ins Gespräch zu gehen.
Der doppelte Boden unter aller Bürgerbeteiligung ist die direkte Demokratie. Sie ist das einzige Instrumentarium, das auf verbindliche Entscheidungen setzt, unabhängig vom Regierungshandeln. Damit können die Bürger*innen Anliegen selbst in die Hand nehmen und bis zu einer gültigen Entscheidung durchziehen. Damit Bürgergutachten ernst genommen werden, müsste, wer Bürgerräte fordert, eigentlich auch eine faire, gut gestaltete direkte Demokratie fordern. Die gibt es auf kommunaler Ebene in Thüringen. Wir haben mit unserem Volksbegehren vor 15 Jahren die besten Regeln in ganz Deutschland erkämpft. Wir waren das Schlusslicht unter den Bundesländern und sind jetzt auf Platz 1.
Wieso gibt es keine lokalen Bürgerräte in Thüringen?
Der Bedarf scheint am größten beim Thema Klima zu sein. Wir erleben, dass dieses in Thüringen intensiv durch Bürgerbegehren vorangetrieben wird. Wenn es auf diesem Weg schon Maßnahmenpakete gibt, ist der Bedarf, unverbindliche Bürgerräte zu fordern und zu veranstalten, vielleicht weniger gegeben.
Die Nutzung von solchen Formaten ist aber auch abhängig davon, dass man sie überhaupt kennt und Erfahrungen damit gemacht hat. Demokratie muss eben Schule machen, man braucht Beispiele, muss diese aufbereiten und das Geschehen in die Öffentlichkeit tragen. Das ist auch eine staatliche Aufgabe. Das Thüringer Innenministerium sehe ich nicht gerade vorne, über Beteiligungsformate aufzuklären, auch die kommunalen Spitzenverbände nicht.
Foto: Michael von der Lohe